mercredi 1 avril 2009

Das Mardschanischwili-Theater bringt in Tbilissi Identitäts-Fragen auf die Bühne


©Birgit Kuch, das Mardschanischwili Theater in Tbilissi

Von Birgit KUCH, Universität Leipzig in Tbilissi/Leipzig
veröffentlicht in Caucaz.com am 10/03/09

Die georgische Gesellschaft hat in den letzten Jahren rapiden Wandel und anhaltende Transformationsprozesse erlebt. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bleibt eine Positionierung gegenüber der sowjetischen Vergangenheit eine komplexe und schwierige Angelegenheit. Welche historischen Momente erinnert werden sollten, und welche man besser vergisst, wird weiterhin diskutiert. Schaut man auf das Staatliche Akademische Mardschanischwili Drama Theater in Tbilissi, lassen sich anschauliche Beispiele dafür finden, wie diese Fragen, die kollektive Identitäten, Erinnerungen und Repräsentationen betreffen, im heutigen Georgien verhandelt werden.


Eine neue Generation am Mardschanischwili-Theater

Das Mardschanischwili, das im letzten November sein 80. Jubiläum feierte, stellt ein spannendes Beispiel für den Generationenwechsel, sowie für die ästhetischen, thematischen und politischen Trends dar, die sich in der Theaterlandschaft von Tbilissi und darüber hinaus auch anderswo seit der Rosenrevolution in Georgien beobachten lassen. Im Zuge der Wiedereröffnung im September 2006 zog nach den drei Jahre andauernden Renovierungsarbeiten des Gebäudes, das mit einer Guckkastenbühne und 480 Sitzplätzen ausgestattet ist, auch eine neue künstlerische Leitung ins Mardschanischwili ein. Mit Lewan Tsuladse, der am Schota Rustaweli Institut für Theater und Film studiert hatte, wurde ein Vertreter der jüngeren Generation von Regisseuren für den Posten nominiert. Seine Wurzeln liegen in der freien Theaterszene von Tbilissi. 1997 gehörte Tsuladse zu den Mitbegründern des Sardapi “Basement” Theaters, wo er zahlreiche Stücke inszenierte, vor allem Komödien und Vaudevilles. Mit Hilfe dieser Masse an eher unterhaltsamen Regiearbeiten, die das bleibende Interesse einer vorwiegend jungen Zuschauerschaft sicherten, schaffte er es, aus dem Sardapi eines der beliebtesten Theater der Stadt zu machen. Der Erfolg des Theaters erlaubte 2003 die Eröffnung einer zweiten Sardapi-Filiale, die sich im Wake-Viertel befindet.

Heute wendet Tsuladse die gleiche Strategie – attraktive Produktionen für ein junges Publikum – für das Mardschanischwili an, wo er schon öfter in den Jahren vor seiner Nominierung inszeniert hatte. Im Dezember 2005 erhielt er für seine Leistungen als Regisseur die Ehrenmedaille des Präsidenten Saakaschwili. Wie er waren die anderen Preisträger entweder jung genug, um sich nicht mit einer sowjetischen Vergangenheit beschmutzt zu haben oder sie gehörten zu jenen, die niemals Teil der alten Elite gewesen waren. Gegen diese sogenannte „rote Intelligentsia“ brachte Saakaschwili dann auch während der Vergabezeremonie intensive Verbalattacken hervor.(1) Diese Zeremonie stellt nur ein Beispiel für die Kontinuitäten traditioneller sowjetischer Praktiken dar, die, mit antisowjetischer Rhetorik verknüpft, im post-revolutionären Georgien zu beobachten sind.

Beim Blick auf das Repertoire des Mardschanischwili seit der Wiedereröffnung zeichnet sich eine bemerkenswerte Heterogenität ab. Der Spielplan bestand seit 2006 nicht nur aus Premieren oder neuen Produktionen, sondern auch aus Inszenierungen, die vor der Renovierung erarbeitet worden waren. Ebenso georgische wie übersetzte ausländische Stücke wurden in den letzten Jahren gespielt, so wie immer schon an diesem Theater. Sie wurden von einer Vielzahl an Regisseuren inszeniert, unter ihnen natürlich Tsuladse. Drei beliebte Produktionen, die dort seit 2006 gezeigt und von drei Regisseuren aus verschiedenen Generationen erarbeitet wurden, können einen Eindruck davon vermitteln, wie sich die Aushandlungsprozesse auf der Bühne des Mardschanischwili gestalten.

„Kunst”: Ein Stück aus dem Westen in Georgien

Die erste dieser Inszenierungen ist Temur Tschcheidses „Kunst”. Tschcheidse absolvierte im Jahr 1965 das Rustaweli Institut für Theater und Film. Und wie Tsuladse heute, war er während der 1980er künstlerischer Leiter am Mardschanischwili. Obwohl er seit den 1990ern dauerhaft am BDT in St. Petersburg arbeitete, kehrte er regelmäßig ans Mardschanischwili und an andere Bühnen in Tbilissi zurück, um neue Stücke zu inszenieren. So auch für „Kunst“, das im Oktober 1999 Premiere feierte.

Drei Freunde im mittleren Alter verwickeln sich in einen Streit um ein Gemälde, das einer von ihnen gekauft hat. Die komplett weiße Leinwand des Kunstwerks ruft Fragen nach Sinn und Bedeutung hervor, doch schrittweise droht die Diskussion auch die Freundschaft der drei herauszufordern. In seiner Umsetzung des international erfolgreichen Stücks der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza für die georgische Bühne arbeitete Tschcheidse nah am Text und verwendete minimalistische Mittel. Es gibt nicht viel Dekor, außer einem Teppich, der als die eigentliche Bühne fungiert, daneben ein paar Stühle und natürlich das weiße Bild. Hauptmerkmal dieser Produktion ist das ausdrucksvolle und immer wieder komische Spiel der Darsteller, das aus schnellen Dialogwechseln und dem gelegentlichen Durchbrechen der vierten Wand besteht.

Auffälligerweise ging diese Adaption des Stücks für die georgische Bühne über die buchstäbliche Interpretation des Texts hinaus. Indem den Figuren, und sogar dem manchmal erwähnten, aber nie auftauchenden Maler des Bildes georgische Namen verpasst wurden, fand eine Naturalisierung der Handlung statt. Einerseits schwimmen das Theater und sein Publikum mit der Aufführung dieses internationalen Kassenschlagers in den Wässern der Kultur des Westens. Dies geschieht vor allem über den Inhalt des Stücks, das sich lang anhaltenden Diskussionen über Zweck und Bedeutung abstrakter Kunst anschließt. Andererseits, so scheint es, bestand die Notwendigkeit, dem Stück einen klaren „georgisierten“ Hintergrund zu erarbeiten, damit die Handlung wirkliche soziale Relevanz für die lokalen Zuschauer erhält.

„Kakutsa Tscholochaschwili“: Ein georgisches Nationalepos

“Kakutsa Tscholochaschwili” wurde von Lewan Tsuladse inszeniert und zum ersten Mal im Mai 2007 aufgeführt. Das Stück über den Widerstandskämpfer Tscholochaschwili, der in den 1920ern gegen die Bolschewiki gekämpft hatte, wurde von Guram Kartwelischwili geschrieben, der 2005 ebenfalls eine Ehrenmedaille vom georgischen Präsidenten erhielt. Für diese Produktion war das Verteidigungsministerium einer der Hauptpartner des Theaters und sponserte 15 Gewehre, die während der Aufführung effektvollen Einsatz fanden.

Kommentare des Regisseurs selbst weisen darauf hin, dass diese Inszenierung im Kontext der intellektuellen militaristischen Mobilisierung gesehen werden kann, die die gesteigerten militärischen Ausgaben in Georgien lange vor dem Ausbruch des August-Krieges im Sommer 2008 begleitete: „Ich hoffe, das Stück wird interessant und wichtig sein“, sagte der Regisseur der englischsprachigen Zeitung „Georgia Today“ im März 2007. „Es wird eine heroische Saga sein, die den militärischen Bestrebungen Georgiens, die unserem Land nutzen, dienen werden.“, fuhr er fort.

„Es macht mir Spaß, an dieser Inszenierung zu arbeiten. Das soll nicht heißen, dass sich das Theater in eine heroische Einrichtung verwandelt, aber ich glaube, dass dieses Genre notwendig für die heutige georgische Bevölkerung ist. Kakutsa Tscholochaschwili ist mein Ideal. Er war ein echter Held. Ich möchte die Beliebtheit des Offiziers-Berufes in Georgien wiederherstellen, ich glaube, dass es keinen besseren Job für einen Mann gibt.“ (2)

Folglich verkörpert die Hauptfigur Tscholochaschwili ein heroisches, vielmehr unwissenschaftliches Geschichtsbild, das sehr an patriotische historische Master-Narrative erinnert. Obwohl es ein paar weibliche Figuren auf der Bühne gibt, handelt es sich hier um eine Männerwelt, die Tsuladse herausgearbeitet hat. Neben der Darstellung von Leben, Taten und Tod des Helden gibt es mehrere Kampfszenen, die mit Pathos und heftigem Humor unterlegt wurden.

Während Tsuladse vor dem August-Krieg die glorreiche militärische Leistung des schließlich besiegten Helden in den Mittelpunkt stellte, scheint sich seitdem eine leichte, aber nicht unerhebliche Sinnverschiebung abzuzeichnen. Heute eignet sich die Produktion offenbar auch zunehmend, um an die Invasion der Roten Armee zu erinnern, deren Resultat die Integration Georgiens in die Sowjetunion war. Mit den Erfahrungen des jüngsten Krieges mit Russland neigt die Darstellung der Invasion von 1921 außerdem dazu, gleichzeitig die Ereignisse vom August 2008 zu repräsentieren. Im Kontext des August-Kriegs erhält das Ideal des heroischen Widerstands gegen den Eindringling eine neue Bedeutsamkeit, auch wenn dieser Widerstand in einer Niederlage endete. Deshalb könnte die historische Figur Tscholochaschwili, an die jahrzehntelang nicht erinnert werden durfte, zu einem Symbol für den „Kampf gegen den Imperialismus“ von 2008 werden.

„Uriel Acosta“: Eine Art Nostalgisches Museum

Während “Kakutsa Tscholochaschwili” übereinstimmt mit zeitgenössischen offiziellen Lesarten der Vergangenheit, die die Erinnerung an die gewaltsame Unterdrückung durch das sowjetische Imperium wach halten, fungiert zur selben Zeit am Mardschanischwili eine andere Inszenierung, „Uriel Acosta“, als eine Art Vehikel, durch das nostalgische Erinnerungen an sowjetische Zeiten möglich zu werden scheinen. „Uriel Acosta“ wurde vom Gründer des Theaters, Kote Mardschanischwili, 1929 inszeniert und 2006 von der kürzlich verstorbenen Schauspielerin Sophiko Tschiaureli erneuert. In der Zwischenzeit wurde die Inszenierung mehrere Male von Veriko Andschaparidse, Tschiaurelis Mutter, „renoviert“, die in der ersten Fassung die Hauptrolle gespielt hatte, bevor sie diese später an ihre Tochter weitergab. Dabei bemühte sie sich, Mardschanischwilis Produktion auf möglichst authentische Weise weiterzugeben – ein Prinzip, das Tschiaureli 2006 weiterführte. Folglich hat ein Stück Avantgarde-Theater aus den frühen sowjetischen Jahren jahrzehntelang in Tbilissi überlebt.

Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Stück des deutschen Schriftstellers Karl Gutskow ist in der Amsterdamer jüdischen Gemeinde des 17. Jahrhunderts angesiedelt. Die Hauptfigur, Uriel Acosta, rebelliert gegen die Rückständigkeit und Engstirnigkeit seiner Umgebung, die ihn auch daran hindern will, seine geliebte Judith zu heiraten. Nachdem man Judith gezwungen hat, einen anderen zu ehelichen und Uriel aus der Gemeinschaft verstoßen wurde, nimmt sich das Paar das Leben.

Als Mardschanischwili “Uriel Acosta” inszenierte, betonte er deutlich die revolutionäre Botschaft des Stücks. Mit seinen Erfahrungen, die er beim Theateroktober in Russland gesammelt hatte, kehrte er nach der bolschewistischen Annektierung nach Georgien zurück und fuhr dort fort, revolutionäres Theater zu machen. Dabei schuf er in seiner Heimat auch gleichzeitig die Grundlagen für modernes Theater. Die historischen und politischen Hintergründe dieser Inszenierung oder ihre Verbindung zur Avantgarde-Bewegung scheinen heute jedoch nicht von allerwichtigstem Belang zu sein. Derzeit stehen eher Erinnerungen an all die gegangen Stars, die an den verschiedenen Fassungen der Inszenierung beteiligt waren, und mit ihnen, die guten alten Zeiten, im Vordergrund.

Demzufolge gibt es nicht viel Raum zum Interpretieren für das Schauspielerehepaar Nato Murwanidse und Nika Tawadse (der auch Tscholochaschwili darstellt), die die beiden Hauptrollen in der heutigen Version von „Uriel Acosta“ geerbt haben. Ihre Aufgabe scheint vielmehr, die Vorfahren zu verkörpern. Es ist dieses System der dynastischen Weitergabe von Tradition, das dem Mardschanischwili-Theater den Charakter eines selbst-referentiellen Raumes, oder eines Erinnerungsspeichers verleiht. Andere zeitlose Eigenschaften des Mardschanischwili waren und sind seine eigentümliche Aktualität, seine Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, sowie seine Nähe zu den jeweiligen Machthabern.

Die drei hier exemplarisch vorgestellten Produktionen am Mardschaniachwili verweisen darauf, dass es etliche konkurrierende Bilder und Narrationen gibt, die am selben Haus auf Fragen kollektiver Angelegenheiten Antwort geben. Diese Vielfalt der Repräsentationen ist darüber hinaus auch der Theaterlandschaft von Tbilissi selbst zueigen, in der das Mardschanischwili seine wichtige und spezifische Position seit mehr als 80 Jahren behauptet.

(1) Vgl.: 31 December 2005, President Saakashvili awards public figures with orders and medals of honor, http://www.president.gov.ge/?l=E&m=0&sm=3&st=1200&id=1281 (20.11.08)
(2) Maka Lomadze: The Catcher in the Rye and Georgian History: Innovations and Plans at Marjanishvili Theatre, in: Georgia Today, 30.03.2007, electronic version: http://www.georgiatoday.ge/article_details.php?id=2612# (16.02.08)

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